Kolumne von Thomas Rausch

Deutschland könnte vor einer Staatskrise stehen

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

das Treffen zwischen Draghi und Bundeskanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble am Mittwoch letzter Woche scheint eine Kettenreaktion an schwerwiegenden Entscheidungen und bemerkenswerten Meldungen ausgelöst zu haben, die meine Vermutung stützen, dass hinter den Kulissen ein Kampf um die Druckerpresse der EZB eskaliert.

Zu den dramatischen Ereignissen zählte bisher zweifellos die Entscheidung der SNB vom letzten Donnerstag, die Eurokopplung des Franken aufzuheben. Ich habe am Montag darüber berichtet, dass diese Entscheidung nicht notwendigerweise auf das schon lange angekündigte OMT-Programm zurückzuführen sein muss.

Während am Montag auch die dänische Notenbank Maßnahmen gegen die Aufwertung der Krone getroffen hat und den Negativzins erhöhte, meldete sich auch überraschend der französische Staatspräsident Hollande zu Wort:

"Und zu guter Letzt, wird die Europäische Zentralbank am Mittwoch die Entscheidung fällen, Staatsanleihen zu kaufen, was der europäischen Wirtschaft erhebliche Liquidität zuführen wird und das kann ebenfalls Wachstum begünstigen."

Diese Bekräftigung klingt so, als stünde das OMT-Programm zur Debatte und als wolle man Zweifel daran, dass es nicht zustande kommen könnte, zerstreuen. Aus eben diesem Grund scheint gestern die EZB erste Details über das OMT-Programm veröffentlicht zu haben. Die knappe Aussage war: Macht euch keine Sorgen, das Programm wird heute beschlossen und es wird eine signifikante Größe haben.

Ich frage mich folgendes:

Wenn Deutschland seinen Kampf um die Druckerpresse noch nicht aufgegeben hat, dann kämpft es nicht nur gegen die Mehrheit des EZB-Rates und das Gutachten des EuGH, sondern auch gegen den Willen der politischen Vertreter der Krisenländer. Womit kann Deutschland die wichtigsten Institutionen der EU herausfordern?

Man muss vielleicht in der Geschichte ein paar Jahre zurückgehen, um einen klareren Blick auf die Gegenwart zu gewinnen.

"Alle Eier in einem Korb"

Heute vor genau 20 Jahren hat Ralph Dahrendorf, einer der großen liberalen Vordenker und ein glühender Europäer, dem "Spiegel" ein Interview über die Aussichten der damals bevorstehenden Währungsunion gegeben. Darin sagte er:

"Die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet. (…) Das (die Konvergenz) geht nicht, weil die Wirtschaftskulturen zu unterschiedlich sind. Deshalb wird es "Ins" und "Outs" geben, weil unter keinen Umständen, wie man es auch anpackt, alle 15 jetzigen EU-Mitglieder, geschweige denn demnächst 18 oder über 20 an der Währungsunion teilnehmen werden. Das schafft Machtunterschiede mit Auswirkungen weit über die Wirtschafts- und Finanzpolitik hinaus."

Denn:

"Das Projekt Währungsunion erzieht die Länder zu deutschem Verhalten, aber nicht alle Länder wollen sich so verhalten wie Deutschland. Für Italien sind gelegentliche Abwertungen viel nützlicher als feste Wechselkurse, und für Frankreich sind höhere Staatsausgaben viel sinnvoller als starres Festhalten an einem Stabilitätskriterium, das vor allem Deutschland nützt."

"Aber der Preis (für die Teilnahme von Frankreich und Italien an der Währungsunion) ist sehr hoch, und es kann sich schon bald herausstellen, daß er zu hoch ist – psychologisch, politisch und ökonomisch. Große Begeisterung über den Vertrag von Maastricht gab es in Europa eigentlich nie, Zweifel und Fragen überwogen von Anfang an."

Und weiter:

"Warum brauchen wir eigentlich eine immer enger zusammenarbeitende Europäische Union? Darauf gibt es in den meisten Ländern kaum eine andere Antwort als die: um Deutschland einzubinden. Merkwürdigerweise ist das auch die deutsche Antwort, jedenfalls die des Kanzlers und übrigens auch seines Vorgängers Helmut Schmidt. (.) Ob Deutschland abdriftet, also vom Pfad der Demokratie abweicht, hegemoniale Gelüste hegt oder seine Bindungen an den Westen lockert, hängt doch von seinen inneren Strukturen ab, nicht von irgendeiner äußerlichen Einbindung."

Diese Einsichten sind erschreckend aktuell. Dahrendorf hat vorausgesehen, was tatsächlich eingetroffen sein könnte: Die Spannungen in der Euro-Zone nehmen so dramatisch zu, dass mit der heute bevorstehenden unverblümten Refinanzierung der Staatsschulden durch die Druckerpresse der Augenblick gekommen sein könnte, ab dem der Preis für die Gemeinschaftswährung aus "psychologischer, politischer und ökonomischer" Sicht zu hoch wird.

Wir erleben im Moment vermutlich die Eskalation des Kampfes der verschiedenen Wirtschafts- und Finanzkulturen in Europa. Wie unterschiedlich sie sind, verdeutlichte jüngst ausgerechnet Mario Draghi selbst. In der "Zeit" erzählte er eine Anekdote über seinen Vater, der ebenfalls Notenbanker war. Er habe in den 1979er-Jahren sein Vermögen in festverzinsliche Staatsanleihen angelegt. Die Inflation schlug zu: "Auf diese Weise war das ganze Geld verdampft." Mario Draghi war um sein Erbe gebracht. Der Sohn lässt uns damit wissen, dass wir wenigstens mit etwas Inflation, auch mit einer etwas höheren, leben müssen. Können Sie sich vorstellen, dass Jens Weidmann, der Chef der Deutschen Bundesbank, solche Anekdoten erzählt?

Herkules am Scheideweg

Die Märkte sind nicht mehr frei. Sie hängen seit den letzten Jahren mehr und mehr von politischen Entscheidungen ab. Um sich an den Märkten orientieren zu können, sollte man deshalb versuchen wie ein Politiker zu denken.

Die Bundeskanzlerin steht vielleicht vor einer historischen Wahl. Gibt sie der EZB nach, werden die Reformen eingestellt und die wachsenden Staatsschulden der Krisenstaaten durch die Druckerpresse finanziert; auf Dauer und unlimitiert. Diesen radikalen Weg ist nicht einmal das Fed gegangen. Im Unterschied zur EZB würde das Federal Reserve Department niemals marode Anleihen bankrotter US-Staaten kaufen, sondern ausschließlich die des Bundes. In den USA werden die Pleitestaaten wir Kalifornien nicht aufgefangen, sondern müssen durch harte Reformen um die Glaubwürdigkeit an den Kapitalmärkten kämpfen. Beschreitet die EZB ihren OMT-Weg, gibt es kein Zurück mehr.

Aus politischer und psychologischer Sicht darf man als Politiker die unterbewusste Bedeutung der Institutionen für die Bürger nicht unterschätzen. Solange sie funktionieren, werden sie in ihrer Bedeutung oft nicht wahrgenommen. Werden sie aber in Frage gestellt, wird den Bürgern bewusst, welche ordnungsstiftende Wirkung sie im Alltag haben und was sie an ihnen verlieren würden. Dann können extreme politische Kräfte die Oberhand gewinnen, die neue Sicherheiten versprechen.

An der Stelle der Kanzlerin würde ich gegenüber Draghi und Hollande argumentieren, dass es nicht sicher ist, dass die Bürger Deutschlands die Souveränität des Parlaments, das für gelebte und friedliche Demokratie steht, durch Entschlüsse aus Brüssel eintauschen werden. Ob sie das Bundesverfassungsgericht, das die beste Verfassung schützt, die Deutschland je hatte, gegen den EuGH tauschen werden. Ob sie die Deutsche Bundesbank, die symbolisch für Währungsstabilität steht, gegen die EZB eintauschen werden. Und ob sie schließlich das Modell der sozialen Marktwirtschaft, das auf der ganzen Welt höchstes Ansehen genießt, gegen ein Modell der Staatswirtschaft eintauschen werden.

Fazit

Würde Draghi heute nicht liefern, wäre ein Crash an den Finanzmärkten wahrscheinlich. Ich glaube, Draghi wird heute liefern.

Vielleicht hat man wieder einmal hinter den Kulissen einen Kompromiss gefunden. Ich halte das sogar für wahrscheinlich. Aber ein Kompromiss würde signalisieren, dass die EZB nicht allmächtig ist. Wir dürfen gespannt sein, wie die Märkte heute darauf regieren werden.

Ihr Thomas Rausch

Offenlegung gemäß §34b WpHG wegen möglicher Interessenkonflikte: Der Autor ist in den besprochenen Wertpapieren bzw. Basiswerten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Analyse nicht investiert.