Wenn der Markt leergefegt ist und Silber zum Luxus wird

Der Silbermarkt erlebt seine heftigste Verwerfung seit über vier Jahrzehnten. Der Spotpreis in London stieg letzte Woche auf bis zu 51,22 USD je Unze – ein Rekordwert, der die Notierungen an der New Yorker Terminbörse Comex um mehr als 3 USD übertraf. Analysten sehen darin den stärksten physischen Engpass seit dem legendären Hunt-Brüder-Squeeze von 1980.
London erlebt extreme Knappheit an physischem Silber
Laut Reuters und Bloomberg ist der Preisaufschlag zwischen London und New York so groß, dass sich der Rücktransport von Silberbarren über den Atlantik trotz hoher Frachtkosten lohnt. In London haben sich die kurzfristigen Leihkosten für physisches Silber – sogenannte Lease-Rates – auf über 100 % p. a. verteuert. Händler berichten, dass kaum noch Liquidität vorhanden ist und Banken einander kaum Preise stellen.
Der Engpass hat mehrere Ursachen. Einerseits wurde seit Mitte 2021 etwa ein Drittel der Londoner Silberbestände abgebaut, teils durch steigende industrielle Nachfrage – etwa für Solarpanels – und teils durch Nettoabflüsse in ETFs. Andererseits verlagerte sich 2025 ein erheblicher Teil der physischen Bestände in die USA, nachdem Silber im September auf einer Entwurfs-Liste kritischer Mineralien der US-Regierung auftauchte. Händler wollten möglichen Einfuhrzöllen zuvorkommen.
Barren auf Flugreisen zwischen New York und London
Seit Anfang Oktober buchen Händler verstärkt Luftfrachtkapazitäten, um Silber von New York nach London zu fliegen. Laut einem Logistikdienstleister werden derzeit 15 bis 30 Mio. Unzen bewegt – so viel wie seit Jahren nicht. Bloomberg berichtet, Comex habe am Freitag den größten Tagesabzug aus Lagerbeständen seit 2019 verzeichnet.
Auf der Terminbörse Comex liegen laut Reuters noch rund 526 Mio. Unzen – nahezu vier Jahresverbräuche des US-Marktes. In London hingegen beträgt der frei verfügbare Bestand laut Berechnungen von Bloomberg nur noch 200 Mio. Unzen, rund 75 % weniger als 2019.
Indische Nachfrage und US-Zölle verschärfen die Lage
Ein zusätzlicher Nachfrageschub kommt aus Indien. Dort stoppte die Kotak Mahindra Asset Management Company vorübergehend neue Einzahlungen in ihren Silber-ETF-of-Fund, um Investoren vor Fehlbewertungen zu schützen. Laut TD Securities stieg die indische Nachfrage während der "Golden Week" deutlich, da Käufer von Hongkong nach London umschwenkten.
Parallel verfolgt die aktuelle US-Regierung eine Untersuchung zu möglichen Zöllen auf kritische Rohstoffe, darunter auch Silber. Marktteilnehmer hoffen auf Klarheit, warnen aber, dass ein Regierungsstillstand in Washington die Entscheidung verzögern könnte.
Analysten erwarten kurzfristige Entspannung durch neue Zuflüsse
Die London Bullion Market Association (LBMA) erklärte, man beobachte die Situation "sehr genau". Experten rechnen damit, dass sich der Engpass allmählich löst, sobald ETF-Investoren oder andere Halter Bestände verkaufen oder zusätzliche Mengen aus China und den USA eintreffen.
"Es wird einen natürlichen Impuls geben, Material nach London zurückzuführen", sagte Joseph Stefans vom Edelmetallverarbeiter MKS Pamp SA gegenüber Bloomberg. Macquarie-Analyst Ryan Mangan betonte zugleich: "In London herrscht echter Mangel, während Comex 500 Mio. Unzen ungenutzt hält."
Der historische Preissprung spiegelt laut Analysten nicht nur kurzfristige Engpässe wider, sondern auch strukturelle Defizite in der globalen Silberproduktion. Wie rasch sich die Lage entspannt, hängt davon ab, ob physisches Metall in ausreichender Menge wieder nach London gelangt – und ob Washington tatsächlich neue Handelsbarrieren einführt.