Bedeutendster Handelsplatz für Rohstoffe geht an die Chinesen
England verliert. Nein, das ist nicht die morgige Schlagzeile zu den letzten Vorrundenspielen der Fußball-Europameisterschaft, sondern England verliert den bedeutendsten Handelsplatz für Rohstoffe, die altehrwürdige London Metal Exchange (LME) an die Chinesen. Nach einem Bietergefecht mit zahlreichreichen Interessenten, darunter der US-Börse InterContinental Exchange und die New York Stock Exchange (NYSE) übernimmt die Börse in Hongkong (Hongkong Exchanges and Clearing (HKEx)) nun für knapp 1,4 Mrd GBP (~1,7 Mrd Euro) die LME. Ein stolzer Preis, wenn man bedenkt, dass der Gewinn der LME im abgelaufenen Jahr gerade einmal bei ca. 7,7 Mio GBP liegt und der Kaufpreis einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von ca. 180 entspricht, bei einem durchschnittlichen KGV von ca. 10-15 für Europäische Standardwerte.
Warum ist dieser Handelsplatz so beliebt, dass die Bieter bereit waren, einen derartigen Aufpreis zu zahlen? Nun, die LME ist der wichtigste und umsatzstärkste Handelsplatz für Industrie- und Edelmetalle, über den 80 Prozent des weltweiten Terminhandels mit Industriemetallen abgewickelt werden. Das gesamte Handelsvolumen an der LME wird auf jährlich ca. 2 Billionen USD (eine 2 mit 12 Nullen) geschätzt. Kurzum: Wem dieser Handelsplatz gehört, der kontrolliert und diktiert den weltweiten Rohstoffhandel!
Bislang gehört die LME ihren Kunden, vornehmlich Banken und Brokern, was sich in bislang vergleichsweise niedrigen Gebühren niederschlägt. Und auch wenn in Europa momentan die Schulden- und Eurokrise die Schlagzeilen fest im Griff hat, so wachsen die aufstrebenden Wirtschaften in Asien, allen voran China und Indien weiterhin mit 7-8% pro Jahr. China hat unlängst angekündigt, geplante Investitionen in die Infrastruktur vorzuziehen, um eine Abkühlung der Wirtschaft zu verlangsam. So sollen allein bis 2015 etwas 70 Flughäfen neu gebaut und die bestehenden ca. 100 Flughäfen modernisiert bzw. ausgebaut werden. Ein solcher Prozess verschlingt Unmengen an Rohstoffen, beispielsweise Eisenerz und Kupfer.
Während China beim Aufbau seiner Infrastruktur schon ein ganzes Stück vorangekommen ist und die Millionenstädte sprichwörtlich wie Pilze aus dem Boden schießen, befindet sich Indien noch ein ganzes Stück zurück auf dem Weg von der Agrarnation zu einer entwickelten Industrienation. Wenn jetzt die 1,1 Mrd Inder auch noch anfangen, in ähnlichem Tempo wie die Chinesen neue Infrastruktur in ihrem Land zu bauen und den Wandel voranzutreiben, dann werden wir nicht nur bei den Seltenen-Erden-Metallen über die Versorgungssituation nachdenken müssen.
Zudem werden Rohstoffe aktuell in Shanghai in der Regel mit einem deutlichen Aufschlag gegenüber den Preisen an der LME gehandelt. Diese Arbitrage dürfte sich in Zukunft deutlich reduzieren, wenn die Börse Hongkong neuer Eigentümer der LME ist und den Chinesen somit einen günstigeren Zugriff auf die Rohstoffe verschaffen. Erinnern Sie sich an meinen Artikel über Alaska und die Kaufsumme von 7,2 Mio USD? Was damals als maßlos überzogen für einen "überdimensionierten Eisschrank und ein paar Eisbären" kritisiert wurde, erscheint heute (auch unter Berücksichtigung der Inflation) als wahres Schnäppchen. Und so könnte sich auch die LME unter strategischen Gesichtspunkten trotz des auf den ersten Blick hohen Kaufpreises als wahres Schnäppchen und gekonnten Schachzug erweisen.
Ihr Manuel Giesen